Schon der Beginn ist legendär. Man sieht ihn nicht, diesen Herrn X. Alles, was man sieht, ist sein Blick. Oder ist es womöglich nur der Blick der Kamera, der durch die endlosen Flure streift, über Stuck, bleichen Marmor, matte Spiegel und massive Türen?
Herr X begegnet in der bizarren Atmosphäre eines abgeschiedenen Kurhotels Frau A und behauptet, sie ein Jahr zuvor an diesem Ort schon einmal getroffen zu haben. Er will mit ihr sogar eine leidenschaftliche Affäre gehabt haben, die mit ihrem Schwur endete, sie wolle nach einem Jahr für immer bei ihm bleiben. Frau A jedoch kann sich an nichts erinnern. Als er die gemeinsame Vergangenheit mit bruchstückhaften Erzählungen heraufzubeschwören versucht, gesellt sich plötzlich Herr M dazu, seines Zeichens Gemahl von Frau A.
Mit „Letztes Jahr in Marienbad“ haben Regisseur Alain Resnais („Hiroshima mon Amour“) und Autor Alain Robbe-Grillet den vermutlich wichtigsten Film des französischen Nachkriegskinos geschaffen, ein Film, in dem Vergangenes und Zukünftiges, Rationales und Unbewusstes auf überaus geistreiche Weise miteinander verknüpft wird. Dabei haben sie nicht nur aus etlichen Zeit- und Realitätsebenen ein komplexes System geheimnisvoller Hypothesen und Parallelen montiert, sondern zudem eine faszinierende visuelle Entsprechung gefunden: Labyrinthisch wie die Erinnerungen ihrer Protagonisten sind auch die Bilder, die einem ganz eigenen Rhythmus folgen und ein Rätselspiel von hohem ästhetischen Reiz ermöglichen.
„Jeder Besucher soll aus unserem Film den Film machen, den er zu sehen wünscht“, hat Robbe-Grillet bemerkt. Und so bleibt es dem Zuschauer tatsächlich selbst überlassen, in jener mysteriösen Liebesgeschichte die Wirklichkeit oder eine Traumwelt auszumachen.
Letztes Jahr in Marienbad Frankreich/Italien 1960, 94 Minuten, ab 16 Jahren, R: Alain Resnais, D: Delphine Seyrig, Giorgio Albertazzi